Heute einmal Märchenstunde

Es waren einmal zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und am Hofe ihres Vaters lebten.

 

Der ältere Bruder war stets zurückgezogen und in sich gekehrt. Er konnte stundenlang im Kaminzimmer seine Bücher studieren und auf seiner Laute spielen. Er hatte ein gutes Herz und nahm jeden Abend von dem reich gedeckten Tisch etwas Speis und Trank mit, um es später mit den Bediensteten zu teilen. Sie machten eine gute Arbeit und ihr magerer Lohn reichte oftmals nicht aus, dass sie sich satt essen konnten.

 

Der jüngere Bruder war ein Draufgänger, der schon früh das Jagen von seinem Vater lernte und auf dem Schlossplatz mit den Rittern das Kämpfen übte. Er bewunderte die starken Männer, aber verachtete das Volk unter ihm.

 

Die beiden Söhne waren des Vaters größter Stolz, auch wenn er zuweilen beide tadelte. Der Jüngere sollte lernen, sich zurückzunehmen. Der Ältere sollte Mut und Kraft entwickeln. So entschied sich der Vater, dass es an der Zeit war, seine Kinder auf Aventiure zu schicken, damit sie sich einer neuen Herausforderung stellen und daran wachsen konnten.

Am Tag der Abreise übergab er den Brüdern zwei Dinge für die Reise: Der große Sohn erhielt von ihm ein Schwert und der kleine Sohn einen goldenen Ring.

Argwöhnisch schauten sich die Brüder an, denn der Ältere war unbedarft im Umgang mit einem Schwert und der Jüngere erkannte nicht die Schönheit in einem funkelnden Schmuckstück. Doch der Vater bestand darauf, dass jeder sein Geschenk bei sich tragen solle und schickte sie auf ihre Reise.

Nach einem halben Tagesmarsch trafen sie am Wegrand auf einen alten weisen Mann, der sich auf einem Fels ausruhte. Der Ältere trat nah an ihn heran und fragte ihn, ob er Hilfe benötige. Mit wachem Augen blickte er hoch: „Ein langer Weg steht Euch bevor. Vergesst nicht, auf Eurer Reise auf Euer Herz zu hören und es wird Euch leiten!“

 

Der jüngere Bruder entfernte sich zügig von dem Alten und schenkte seinen Worten keine Beachtung. Der ältere Bruder nickte wohlwollend, gab dem Alten ein Stück von seinem Laib Brot und folgte seinem Bruder.

 

Am nächsten Tag hörten die Brüder aus dem Waldesinneren ein lautes Geschrei, das sie aufmerksam machte. Sie folgten der keifenden Stimme und entdeckten auf einer Lichtung, die umsäumt von Kiefern war, eine alte Zigeunerin. Hände und Füße der Zigeunerin waren gefesselt und sie lag wehrlos auf dem Boden. Wütend beschimpfte sie die Brüder und sprach böse Flüche aus. „Wenn ich frei bin, werde ich Euch finden. Ich werde Euch den Atem stehlen, Euch ausbluten lassen und einen Fluch über Eure Familie legen. Und kein Gott wird Euch davor beschützen können.“

Der jüngere Bruder griff nach dem Schwert seines Bruders: „Lass mich dies beenden, damit wir uns die nächsten Tage nicht vor ihr ängstigen müssen.“ Der ältere Bruder hielt ihn zurück und nähert sich vorsichtig dem keifenden Weibe. Er blickte tief in ihre Augen. „Nein Bruder, sie hat nur Angst. Sie wird uns nichts tun. Es ist nur die Furcht, die aus ihr spricht.“ Im nächsten Moment löst er die Fesseln der Zigeunerin und sie verwandelte sich in einen weißen Adler, der über ihren Köpfen kreiste. „Danke, dass Ihr mich gerettet habt! Euerm Reich wird es in Zukunft an nichts mangeln. Geht Euern Weg und erkennt das Gute!“ Wütend über den Lauf der Dinge rannte der jüngere Bruder voran, fest davon überzeugt, das nächste Abenteuer in seine Hand zu nehmen. Mit großen, raschen Schritten ließ er seinen Bruder weit hinter sich.

Schon bald begegnete ihm eine junge Königstochter. Traurig saß sie auf einem Baumstamm und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, als sie den jüngeren Bruder kommen hörte. Der Bruder war angetan von dieser Schönheit und sorgte sich um ihr Wohl. „Ich habe meinen Ring verloren. Den wunderschönen Silberring, den Vater mir geschenkt hatte,“

 

erzählte ihm die Königstochter. Der jüngere Bruder griff nach seinem goldenen Ring: „Über Silber steht Gold und wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann, so soll er Ihnen gehören!“ Die Augen des jungen Mädchens begannen zu strahlen und voller Freude hielt sie dem Bruder ihre Hand entgegen. In dem Moment, als sie den goldenen Ring am Finger trug, verwandelte sie sich plötzlich in einen großen, dunklen Gargoyle. „Jahrelang habe ich danach gesucht, einen tölpelhaften Jüngling zu finden, der mich beschenkt und mit neuer Kraft nährt.“ Weit spannte er seine Flügel und holte mit seinen Pranken nach dem jungen Bruder aus, um ihn zu töten. Doch bevor er nach ihm greifen konnte, stürzte sein älterer Bruder aus dem Gebüsch und schlug ihm mit seinem Schwert den Kopf ab. Der Körper des Gargoyles zerfiel zu Staub und zurück blieb nur der goldene Ring.

 

Die Brüder kehrten gemeinsam auf den Waldweg zurück und trafen nach einer Weile erneut auf den alten Mann. Diesmal blieb auch der jüngere Bruder aufmerksam stehen. „Die Kampfeskunst ist eine leicht erlernte Fähigkeit, doch das Erlernen der Menschenkenntnis dauert oft ein Leben lang. Mangelt es Euch daran, kann es schnell mit dem Tode enden. Jüngster Bruder, so stolz und stark Du auch bist, hast Du Dich blenden lassen. Das Gute verstoßen, vom Bösen verführt. Nicht alles Schöne ist auch gut. Nicht alles Hässliche ist gleich böse. So geh gemeinsam mit Deinem Bruder und lerne von seiner Fähigkeit, mit dem Herzen zu  sehen. Gemeinsam werdet Ihr wahrlich gute Ritter: tapfer, klug und edel.“

So setzen die zwei Brüder ihre Aventiure gemeinsam fort und hatten bereits den ersten Schritt zur Ritterlichkeit getan, indem sie hinschauten, zuhörten und voneinander lernten.

 



„Man kann einem Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.“

Galileo Galilei